ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 5 | 28.01.2021

Bildtelefon, Videokonferenz und Fernsehgottesdienst sind heutzutage kaum noch geläufige Begriffe, obwohl wir tagtäglich mit ihnen zu tun haben. Ein kurze Begriffsbestimmung mag also als Orientierung hilfreich sein. Wikipedia ist die Enzyklopädie unserer Zeit. Einfach mal die Begriffe eingeben und nachlesen. Ich zitiere auszugsweise:
 
Bildtelefon nannte man seinerzeit ein Telefon mit zusätzlichem Video-Bildschirm. Entstanden 1936 als "Fernsehsprechdienst", gab es in den 80-er und 90-er Jahren kommerzielle Anwendungen via Glasfaserkabel und ISDN. Danach erlaubte die DSL-Technik eine höhere Übertragungsbandbreite, so dass unter Nutzung von PC, Webcams und entsprechender Software das Internet die Basis für Bildtelefonie wurde.
 
Als Videokonferenz bezeichnet man den synchronen Informationsaustausch zur Bild- und Tonübertragung. Mindestens eine Kamera und ein Mikrofon als Eingabegeräte sowie ein Bildschirm und ein Lautsprecher oder Kopfhörer als Ausgabegeräte müssen vorhanden sein. Erste Entwicklungen von Technologien zur Videokonferenz begannen bereits in den 1930er-Jahren, parallel zur Entwicklung des Fernsehens. Trotz neuer Technologien in den 1970er-Jahren und einer dadurch getragenen Wiederaufnahme der Entwicklung waren Videokonferenzen bis zum Beginn des dritten Jahrtausends wenig verbreitet. Erst mit der Umstellung auf IP-basierte Vermittlungstechnik und die Verfügbarkeit breitbandiger Verbindungen konnte die Videokonferenz populär werden.
 
Fernsehgottesdienst nannte man einen besonders vorbereiteten Gottesdienst, der durch Mikrofone und Fernsehkameras aufgezeichnet und zu einem späteren Zeitpunkt gesendet wurde. Fernsehgottesdienste in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten gibt es in Deutschland seit 1952 (evangelisch) und 1953 (katholisch). Rundfunkgottesdienste gab es schon ab Ende der 1920-er Jahre in England, also vor fast 100 Jahren…
 
Die heute genutzte Technik ist also im Prinzip nichts Neues, sondern führt Innovationen früherer Jahrzehnte mit anderen bzw. heutigen Mitteln fort. Man sollte meinen, dass der Erfahrungsschatz vorhergehender Generationen genutzt und mit den Möglichkeiten der Digitaltechnik verbunden wird. Praktisch scheint dies aber nicht der Fall zu sein, denn das sprichwörtliche "Rad" wird überall neu erfunden. Positiv ist, dass man an vielen Stellen Lernfähigkeit entdecken kann, was sicherlich auch mit den Möglichkeiten der heutigen Digitaltechnik zu tun hat. Jedes Standard-Mobiltelefon ist in Sachen Bild (bewegt und unbewegt) und Ton dem "Bildtelefon" überlegen und weil alles über Funk und/oder Internet funktioniert, spielt das überall und jederzeit. Auch Tablets, Computer, Fernseher, Kaffeemaschinen, Kühlschränke und Heizungen haben ein Wort und ein Bild mitzureden. Sicherlich wird niemand mit seinem Kühlschrank zu Hause eine Videokonferenz anberaumen, aber Chöre singen heutzutage schon in Einzelfenstern am Bildschirm und wer will, der kann darin manchmal auch so etwas wie Chor-Sound entdecken. Natürlich kann man auch in ein Mobiltelefon oder ein Tablet oder den Laptop hinein schauen und Gitarre spielen und singen und das 24/7 in alle Welt streamen, aber wie sieht das denn aus und wie hört sich das an?
 
Die Fach-Zeitschrift "Production Partner" kommentierte dies in ihrer Ausgabe 08/2020 in einem "Standpunkt" so: "Im Prinzip hat jeder Smartphone Benutzer ein Livestream-Sendestudio in der Tasche. Diese einfache Verfügbarkeit suggeriert dem Laien, das das 'live gehen' ein trivialer Vorgang ist. Dass die Qualitätsunterschiede so groß sein können, wie der Abstand zwischen Sonne und Mond, ist vielen nicht bewusst."
 
Der Artikel "Neue hybride Realität" hatte selbstverständlich zum Ziel, die Interessen der Veranstaltungstechnik-Branche zu unterstützen, aber das Corona-Jahr 2020 und insbesondere der zweite "Lockdown" haben gezeigt, dass nicht nur Fachpersonal, sondern auch Amateure und Artisten lernfähig sind. Man verbesserte den Ton mithilfe der oft ohnehin vorhandenen professionellen Ton-/Homestudio-Ausrüstung, in Sachen Licht erinnerte man sich - gezielt und gerne unterstützt durch die großen Musikalien-Versandhäuser - an grundlegende Erkenntnisse der Beleuchtungstechnik. Das "weiß" und "hell" und "von vorne" erlebte eine Renaissance. Auch bei den heute Livestream genannten Fernsehgottesdiensten und Gottesdienst ähnlichen Veranstaltungen konnte man vielfach Verbesserungen in Sachen Ton, Bild und Licht verzeichnen. Gleichzeitig wuchsen aber auch Menge und Anteil der eher angestrengten Bemühungen um Selbstdarstellung. Nicht alles, was man sehen muss, ist auch betrachtenswert…
 
Ein ganz wesentlicher Schritt der Livestream-Aktionen war der Schritt weg von der Bühnensituation und dem "vorne" im Gottesdienstraum zu frei gestalteten Aufnahmesituationen, die den Blick des Zuschauers am Bildschirm aufnehmen und eine Fokussierung auf die Programmelemente erlauben. Zwar passiert auch den Machern professioneller Fernsehgottesdienste (ARD, ZDF, ERF etc.) immer noch der Lapsus, menschenleere Kirchenbänke oder Stuhlreihen zu zeigen, aber in der Tendenz entdecken alle die Vorteile des "Raum-im-Raum"-Prinzips, also ein Fernsehstudio in der Kirche oder Gemeindehaus, in einem Foyer oder einer Fabrikhalle. Interessante "Locations" lassen sich überall finden und mobile Technik (Ton, Licht, Video) ist heute reichlich vorhanden und verfügbar.
 
Wenn man irgend etwas Positives über Corona sagen kann, dann dies: Die "Digitalisierung" der Musikwelt ist nicht mehr aufzuhalten. Die Medien sind schon lange digital, aber nun geht es darum, den "digitalen Raum" mit Leben zu füllen, d.h. sich in einer Weise zu präsentieren, die für möglichst viele Zuschauer attraktiv ist und in entsprechenden Clicks und analysierbaren Aufrufzahlen mündet. Dazu gehört natürlich sehr viel mehr als "die Technik", aber der Aufbau von Kompetenz im Umgang mit den verschiedenen technischen Gewerken ist eben auch wichtig. Musikmachen besteht nicht nur aus dem Spielen eines Instruments. Ich selbst habe als Musiker in verschiedenen Fernseh- und Rundfunksendungen mitgewirkt, sozusagen als "Objekt" der jeweiligen Betrachtung. Die Fernsehsendungen waren für uns damals immer die langweiligsten Jobs. Man musste stundenlang auf irgendetwas oder irgendjemand warten. Aber am Ende stand dann die Sendung und man hatte jedes mal ein Stück mehr Respekt gewonnen vor dem Aufwand und den Abläufen einer Fernsehproduktion und den vielen Menschen, die daran mitwirkten. Auch die Streamer der heutigen Zeit werden das Wort Regie buchstabieren lernen, neben all den technischen Gegebenheiten und Besonderheiten. Es braucht Menschen mit Vision und Kreativität, die etwas "transportieren" wollen und können.
 
Konzerte bzw. Musikbeiträge im Fernsehen gab es selbstverständlich auch vorher, aber die Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1977 markiert eine Wende in der Geschichte von Bildschirm und Livemusik. Aus der Grugahalle in Essen übertrug der WDR im Rahmen der Eurovision das erste Rockpalast-Festival mit Rory Gallagher & Band (UK), Little Feat (USA) und Roger McGuinn's Thunderbyrd (USA). Das hatte es weltweit so vorher noch nie gegeben. Alles wurde live und ungefiltert bis in die frühen Morgenstunden hinein übertragen. Das Festival wurde parallel per Radio ausgestrahlt, so dass man im neuzeitigen Farbfernsehen (mono) zusehen und im Radio bzw. der Stereoanlage zuhören konnte.
 
Den Rockpalast gibt es noch immer und man kann seine Geschichte in vielfacher Weise nachlesen und nachschauen. Im Rückblick und im Vergleich zu den heutigen Livestreams dürfte interessant sein, dass die Akteure von den Regisseuren über die Kameraleute bis zu den Tontechnikern in der Halle und den Übertragungswagen nach eigener Aussage nicht wirklich wussten, was sie taten. Für den Amptown PA- und Lichtverleih beispielsweise war es damals eine neue Erfahrung, mit den besonderen Lichtbedürfnissen der Kameras umzugehen. Sie mussten sehr viel mehr weißes Licht aufhängen, als sie es bei einem normalen Konzert gemacht hätten. Auch die Fernseh-Tontechniker mussten eine ihnen völlig unbekannte Musik mischen und live übertragen. Es ist erstaunlich, wie sehens- und anhörenswert das Ergebnis auch 44 Jahre später noch ist!
 
Sie haben einfach gemacht und waren mit Freude an der Sache dabei. Das wird einer der Schlüssel zum Erfolg gewesen sein und genau dies kann man den Streamern der heutigen Zeit ebenfalls nur wünschen. Das Ergebnis der Bemühungen muss stimmen und überzeugen. Wenn man Zuschauer gewinnen will, dann hat man heute deutlich mehr Möglichkeiten als früher. Man braucht keine hydraulisch bewegbaren Fernsehkameras auf Fahrgestell oder einen riesigen Übertragungswagen (LKW), aber man braucht Ideen und Visionen für die heutige Zeit.
 
Und heute wie früher funktioniert dieser einfache Trick: Einfach mal dem Video/Fernsehen/Livestream ohne Ton zusehen bzw. dem Geschehen ohne Bild zuhören. Man sieht und man hört so sehr schnell, was funktioniert und was nicht… ;-)
 

Hans-Martin Wahler



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