ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 4 | 17.12.2020

Es gab schon einmal so etwas wie einen "Lockdown". Grund dafür war der Zweite Golfkrieg (The Gulf War, Operation Desert Shield / Operation Desert Storm) am Anfang des Jahres 1991. Ausgelöst wurde der Konflikt durch die Invasion Kuwaits durch irakische Truppen am 2. August 1990. Am 16. Januar 1991 begannen die Kämpfe zur Befreiung Kuwaits und endeten am 28. Februar 1991 mit der Kapitulation des Iraks. Dieser Krieg war zwar nur kurz und eigentlich ziemlich weit entfernt, aber er kam uns Bundesdeutschen doch sehr nahe, als die Medien berichteten, dass auf Seiten der amerikanischen Streitkräfte die gesamte Logistik dieses Krieges über Deutschland lief. Die "Ramstein Air Base" und das "Landstuhl Regional Medical Center" (das größte amerikanische Militärhospital außerhalb der USA) stellten sich auf einen Massenanfall an Verwundeten und Toten ein, Bilder von hunderten von leeren Leichensäcken und Aluminium-Särgen lösten 1990 einen öffentlichen Schock aus. Die Folge des Erschreckens und Aufwachens war ein "Lockdown" von Veranstaltungen, insbesondere im gemeindlichen Bereich.

Ich hatte damals bei "A/M-Concerts" mit vielen Konzerten zu tun. Knapp 30 profilierte Künstler (Bands, Solisten, Kleinkunst, Literatur) aus dem nationalen (BRD + DDR) und europäischen Bereich wurden von uns in Westdeutschland vermittelt und betreut – und auf einmal traf eine Konzertabsage nach der anderen ein. Keine Verschiebungen, sondern durchweg Absagen! Die Gemeinden bekamen Angst, in der so erschreckenden und ungewissen Situation Konzerte zu veranstalten. Binnen weniger Wochen waren sämtliche Konzertbuchungen storniert und es gab keine neuen Konzerte zu vermitteln und zu betreuen. Die über viele Jahre gewohnten und bewährten Strukturen waren komplett weggebrochen. Die Konzertlandschaft brauchte nach dem "Golfkrieg-Lockdown" etwa zwei Jahre, um wieder normal zu funktionieren. Die Zeit der christlichen Bands in Deutschland (1965-1990) war mit dieser Zäsur allerdings definitiv zu Ende. Es begann die Zeit der Dominanz der Praise- & Worship-Songs.

Es wäre abwegig, die Ereignisse der Jahre 1991 und 2020 miteinander vergleichen zu wollen. Interessant sind jedoch gewisse Aspekte in Hinblick auf Veranstaltungen. Der Corona-Lockdown im März 2020 war in Art und Umfang ein Novum. Per staatlicher Anordnung mussten binnen weniger Tage sämtliche Veranstaltungen abgesagt werden. Viele Veranstalter und Organisatoren hatten seinerzeit die Hoffnung, dass der "Spuk" im Herbst 2020 vorüber sein würde. Dann wurde es zur Gepflogenheit, sich um genau ein Jahr auf "nach Ostern" (2021) zu vertagen. Aber schon vor dem "Lockdown light" im November 2020 war zu beobachten, dass das erste Halbjahr und der Sommer 2021 wieder leergeräumt wurden und man die Hoffnung auf einen Neustart im Herbst 2021 setzte. Gestern hat nun der zweite umfassende Lockdown begonnen, dessen tatsächliche Länge sicher nicht mit dem avisierten Datum 10. Januar 2021 übereinstimmen wird. Entsprechend dürfte sich der "Neustart" weiter verzögern auf Frühjahr oder Sommer 2022. Erst dann würde also das "Hochfahren" von Veranstaltungen beginnen können, wobei zwei Jahre "Rehabilitationsphase" nach den beiden totalen Lockdowns des Jahres 2020/21 eine ausgesprochen sportliche Herausforderung sein dürfte. Im besten Fall wäre also alles im Frühjahr 2024 wieder "normal"?

Wohl kaum, denn weder Zeitraum, noch Zielvorstellung ("normal") sind als Orientierung geeignet. Wer ein wenig länger "im Geschäft" ist, der weiß, dass der innere Faden reißt, wenn Musikmachen pausiert. Nicht nur die Musikmachenden selbst gewinnen Abstand, sondern auch ihr Publikum und sehr schnell kann dies beidseitig zu viel Abstand sein. Im Bereich Musik und Kultur ist ein Jahr eine "Ewigkeit", also kommt dem, was aktuell geschieht, eine besondere Bedeutung zu. Es stimmt hoffnungsvoll, dass viele Musikaktive die Corona-Zeit nutzen, um neue Songs aufzunehmen, ihr Repertoire zu erneuern oder zu ergänzen und neue Wege wie Livestream-Konzerte auszuprobieren und als Kunstform zu etablieren. Für Chorprojekte in allen Altersklassen sieht es aktuell jedoch ziemlich schlecht aus mit irgendwelchen Perspektiven. So lange Abstand halten Pflicht ist, so lange wird es bei Chören weder die "Pflege im Bestand" geben können, noch das Einüben neuer Songs. Alles, was sich in Räumen abspielen muss, hat in der "dunklen Jahreszeit" keine Chance - und dies wird sicherlich auch für den Herbst und Winter 2021/2022 gelten.

Das Jahr 2020 hat jedoch gezeigt, dass zwischen Mai und September viel Raum für Open-Air-Veranstaltungen aller Art entsteht. Auch für Konzerte wäre dies eine sehr gute Perspektive für 2021 und 2022. Mein persönlicher Eindruck nach dem Corona-Konzertsommer 2020 mit 17 Live-Konzerten in Siegen ("Sonntagnachmittag um 4 im Schlossgarten") ist, dass die Besucher nach ein paar wenigen Wochen Erst-Lockdown ausgesprochen dankbar waren für Live-Musik. Die besonders gut gespielten Konzerte wurden geradezu enthusiastisch gefeiert. Daran könnte man anknüpfen und für 2021 und 2022 überlegen, wo und wie sich regionale und lokale Veranstaltungsreihen organisieren lassen. Nach acht Monaten vor Bildschirm und Kamera wird es definitiv wieder Bedarf und Nachfrage geben für alles, was live und lebendig stattfindet.

Das Bild oben zeigt Siegens kleinstes "Theatron", ganz in der Nähe des Zeughauses. Die Anlage ist etwas in die Jahre gekommen, aber der Platz wäre nach wie vor perfekt geeignet für kleine Events. Es gibt mit Sicherheit eine Menge ähnlich geeigneter Areale, beispielsweise an Gemeindehäusern oder Kirchen, die sich für Veranstaltungen nutzen ließen. Wenn man für vier oder fünf Monate eine geeignete Infrastruktur verfügbar macht (Bühne/Überdachung, Ton/Licht/Service, Organisation/Abstandsregeln/Hygienemaßnahmen), würde sich ein Veranstaltungsangebot leicht realisieren lassen. Dies müsste keineswegs auf Konzerte reduziert bleiben. Theater, Podiumsdiskussionen, Vorträge und vieles andere wäre ebenso angesagt. Auch Gottesdienste könnten so wieder mit mehr Besuchern stattfinden. Kontinuität, Vielfalt und Interaktivität sind die besten Voraussetzungen, das Interesse der Besucher zu finden. Es muss nicht um 4 Monate und "jede Woche" gehen, aber es sollte erkennbar eine "Serie" sein.

Wenn man sich die Idee der lokalen Freiluft-Bühnen über die gesamte Region und auf interessante Locations und engagierte Leute vor Ort verteilt vorstellt, dann könnte auf diese Weise für viele wieder erfahrbar werden, wie wohltuend und inspirierend es ist, Menschen jenseits des Bildschirms zu begegnen. Konkurrenz durch "große" Veranstaltungen oder Festivals wird es in den nächsten zwei Jahren nicht geben, also kann man mit einem lokalen Konzept ab Frühjahr 2021 wieder ans Laufen kommen und Land gewinnen. Es wird eine Herausforderung sein, den physikalischen Lockdown zu meistern, wenn es denn so weit ist. Viel schwieriger wird es jedoch werden, den mentalen Lockdown zu überwinden. Immerhin könnte man damit schon mal anfangen. Der Rest wird sich finden…


Hans-Martin Wahler



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