ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 15 | 27.01.2022

"Der Vorhang ist runtergezogen"
 
Wolfgang Suttner ist im Siegerland als ehemaliger Kulturreferent des Kreises Siegen-Wittgenstein bekannt. Auch nach seiner Pensionierung ist er im Deutschen Kulturrat aktiv geblieben und nimmt die Funktion des Sprechers wahr. In einem lesenswerten Interview in der Siegener Zeitung (04.01.2022) ging es um die Situation der Kultur in Deutschland. Das Interview fand seinen Abschluss in den Worten: "Corona hat den Vorhang runtergezogen. Wenn der wieder richtig aufgeht, dann müssen wir genau überlegen, wie etwas geht und was geht. Das ist auch ein katarthischer Prozess".
 
wikipedia weiß den Begriff "katarthischer Prozess" zu erläutern: "Katharsis" (altgriechisch Reinigung) bezeichnet in der Psychologie die Hypothese, dass das Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen zu einer Reduktion dieser Konflikte und Gefühle führt. Vornehmlich wird von Katharsis gesprochen, wenn durch das – auch symbolische – Ausdrücken oder Kanalisieren von Aggressionen, wie das Schlagen auf einen Sandsack, oder das ersatzweise Ausleben aggressiver Gefühle in fiktiver bzw. virtueller Form (z. B. über Theater, Film, Videospiel) eine Reduktion negativer Emotionen (Ärger, Wut) erzielt werden soll. Die auf Aristoteles basierende, populäre Annahme der kathartischen Wirkung von aggressiven Handlungen ist umstritten und wurde vielfach widerlegt."
 
Bereits einen Tag zuvor wurde von der SZ eine dpa-Meldung veröffentlicht, in der sich der Präsident des deutschen Bühnenvereins (Interessen- und Arbeitgeberverband von Theatern und Orchestern in Deutschland), Carsten Brosda, besorgt über die Zukunft der Kulturhäuser äußerte: "Einerseits haben sie (die Kulturhäuser) weniger Einnahmen in der Kasse, weil das Publikum nur langsam zurückkehrt, andererseits sind auch die Kommunen als Zuwendungsgeber durch Corona finanziell klammer". Sein Statement war: "Die Bühnen können nicht sagen: Wir machen nach Corona einfach so weiter wie bisher, und das Publikum kommt zurück. … die Theater müssen ihren Standort in der Gesellschaft teilweise neu definieren".
 
Im christlichen Musikbereich gibt es so gut wie keine Kulturhäuser, allenfalls hier und da mal eine Kulturkirche. Von einer ständigen "Zuwendung" seitens der Kirchen und Gemeinden profitiert seit jeher die traditionelle Kirchenmusik, Projekte mit zeitgemäßer Kirchenmusik sind dagegen eher rar. Der überwiegende Teil von Musikveranstaltungen im Rahmen der Kirchen und Freikirchen muss also eigenwirtschaftlich durchgeführt werden und sich im Spannungsfeld von Einnahmen und Ausgaben zurechtfinden. Trotzdem gelten die oben zitierten Aussagen auch für die gesamte freie Musik- und Kulturbetätigung. Letztlich sitzen alle im selben Boot und haben mit denselben Herausforderungen zu tun.
 
Nach fast zwei Jahren Corona sind die Auswirkungen nun mit Händen zu greifen. Sämtliche Bemühungen um den viel zitierten und sicherlich gut gemeinten "Neustart" im Sommer und Herbst 2021 wurden durch die vierte Corona-Welle zunichte gemacht und weil jetzt schon von einer fünften Welle gesprochen wird, wird sich niemand mehr ernsthaft um Konzerte und Veranstaltungen im Frühjahr und Sommer 2022 bemühen. Das finanzielle Risiko ist einfach zu hoch, der zu betreibende Aufwand wird sich weder rentieren noch lohnen. Man vertagt sich wieder einmal um ein Jahr, falls man überhaupt noch was plant. Dies gilt übrigens auch für die Anbieter, die Interpreten. Man agiert "auf Sicht" und "unter Vorbehalt"…
 
Eigentlich ist ein "runtergezogener Vorhang" etwas Gutes, weil er etwas verspricht wie beispielsweise ein unterhaltsames Theaterstück. Man wartet vor und hinter dem Vorhang auf das, was angekündigt und vorbereitet ist. Vorfreude ist die schönste Freude, sagt man, aber wenn die Gleichung Vorhang = Corona gilt, auf was darf oder soll oder kann oder muss man sich denn freuen? Wenn der Vorhang aufgeht, dann weiß man eigentlich jetzt schon, dass nichts mehr so sein wird wie "vor Corona". Es gilt das "Prinzip Hoffnung", dass sich wieder Publikum einfinden wird und Tonträger und "Merch" wieder in klingende Münze umgetauscht werden können. Aber genau so gilt auch, dass es "nach Corona" darum gehen wird, nicht nur den "Standort in der Gesellschaft" neu zu finden, sondern auch den Standort innerhalb der kirchlichen und gemeindlichen Landschaft.
 
Beginnen muss das aber schon vorher. "Wenn der (Vorhang) wieder richtig aufgeht, dann müssen wir genau überlegen, wie etwas geht und was geht" – nein, das wäre viel zu spät. Die Frage wird sein, ob sich die Zukunft so entwickeln wird, wie ich es WILL, oder ob ich heute schon sehen KANN, was in Zukunft angesagt sein wird. Nach Corona werden die Visionen von heute Realität – im positiven wie im negativen Sinne.

Hans-Martin Wahler



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