ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 10 | 17.06.2021

"Du kannst alles machen, aber es darf uns nichts kosten"
 
Das klingt nach Freifahrtschein, stellte sich im Kontext jedoch eher als Problemanzeige dar. Ich war damals Presbyter in einer Siegener Kirchengemeinde, deren historische Kirche ganz am Rande der Gemeinde lag, dafür aber "mitten in der Stadt" im kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Die beiden Bezirke der Kirchengemeinde waren dagegen entweder sozial problematisch oder bürgerlich unauffällig. Die Kirche wurde viel genutzt für traditionelle Musik und Kultur, deshalb fand ich die Idee reizvoll, das Spektrum der Stadtkirchenarbeit durch zeitgemäße Angebote zu erweitern.
 
Das Konzept war breit aufgestellt. Standbein 1 waren zwei Gospel-Workshop-Projekte für Erwachsene und Kinder mit Musikern aus der "Bundesliga", Standbein 2 waren fünf Konzerte an drei Tagen in der Adventszeit in der Kirche und Standbein 3 war ein Gottesdienst-Projekt, das von Persönlichkeiten aus der Region gestaltet wurde. Da es sich für eine Einzelperson als eher schwierig darstellen würde, diese Projekte aus eigener Tasche zu finanzieren, lag der Gedanke nahe, die Kirchengemeinde als Träger zu gewinnen, zumal sie vom Imagegewinn der Projekte profitieren würde. Im Presbyterium fand sich auch überwiegend Zustimmung zu den Ideen, aber als Entschluss wurde dann der obige Satz formuliert: "Du kannst alles machen, aber es darf uns nichts kosten."
 
Immerhin war damit der Weg frei und die Projekte konnten ans Laufen gebracht werden. Und die Kirchengemeinde hat durchaus auch zum Gelingen der Projekte beigetragen, in dem sie beispielsweise den Gospel-Workshops bzw. dem späteren Gospelchor (Siegen Gospel Choir) das Gemeindehaus für die Proben kostenlos zur Verfügung stellte und für die Konzerte in der Kirche auf den kommerziellen Mietsatz verzichtete. Für das Gottesdienstprojekt GospelChurch konnte die Kirche sogar kostenlos genutzt werden. In der kalten Jahreszeit kostet das Heizen der Kirche pro Tag bzw. Veranstaltung etwa 150 Euro und das Erdgas im Gemeindehaus findet auch nicht kostenlos den Weg in die Heizungstherme.
 
Christmas Concerts hieß die Konzertreihe, die entsprechend der OAS-Tradition an drei Tagen stattfand. Drei Abendkonzerte, ein Schulgottesdienst und ein musikalisch gestalteter Adventsgottesdienst boten die Möglichkeit, ein breites Programmangebot zu machen und neue Formate auszuprobieren. Es wurde eine Bühne mitten in der historischen Kirche aufgebaut und die gesamte Bestuhlung um 45 Grad gedreht, damit möglichst viele Besucher das Geschehen auf der Bühne mitverfolgen konnten. Mit knapp über 500 Besuchern an einem Konzertabend konnte sogar ein neuer Besucherrekord aufgestellt werden. Trotzdem blieben die Gesamtbesucherzahlen hinter den Erwartungen und Notwendigkeiten zurück. Zum einen spielte das Wetter (insbesondere Schnee) eine Rolle, zum anderen nahmen es die regionalen Interpreten nicht so sehr genau mit der Exklusivität der Konzerte, d.h. sie machten ihrem Publikum zeitgleich auch andere Konzertangebote. Und nicht zuletzt nahmen die immer stärker werdenden lokalen Adventsaktivitäten in den Stadtteilen und den umliegenden Städten und Orten das Publikum in Beschlag. Wenn etwas in der unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet, dann ist eben Anwesenheit und Engagement Pflicht… Nach vier Runden im Zweijahresabstand war dann Schluss mit den Christmas Concerts. Die Konzerte waren nicht mehr durch den Erlös durch Eintritt zu finanzieren und Sponsorengelder oder Steuer- oder Fördermittel gab es keine.
 
De facto wäre eine "Fremdfinanzierung" in der Größenordnung von etwa einem Drittel der Gesamtkosten notwendig gewesen - oder eben höhere Eintrittserlöse durch mehr Besucher. In Sachen Subventionierung hätte man sicherlich was tun können, aber wirklich geholfen hätte das nicht, denn es gab sozusagen einen Denkfehler im System. Die Christmas Concerts in der Siegener Martinikirche basierten auf der Idee, das musikalische Geschehen in der Region zu "bündeln", um durch die erzielte Öffentlichkeitswirkung neue Publikumskreise zu erschließen in der Region. Das entsprach jedoch weder den Interessen der regionalen Interpreten, noch den Interessen der Gemeinden in der Region. In der spendierfreudigen Adventszeit und insbesondere an den Adventswochenenden "muss" halt jede und jeder auf sich aufmerksam machen, egal wie…
 
Bedauerlicherweise ließ sich das Phänomen Eigeninteresse auch bei anderen Projekten als Problemanzeige erkennen. Bei der Konzertreihe Rock against Halloween verweigerten Gemeinden Werbung und Bekanntgabe, beim Musicians Day tauchten Unmengen gemeindlicher Musiker ohne Registrierung in den Workshops auf und verschwanden nach deren Ende sofort wieder. Auch GospelNetwork mit Newsletter (wöchentlich), WebSite (24/7) und gedruckter Programmbroschüre (halbjährlich/saisonal) hatte im Ursprung quasi genossenschaftliche Ideen. So wurden zu Konzerten Werbe- und Promotionpakete bereitgestellt, sogar Vorlagen für eMail-Einladungen zu Konzerten wurden erstellt. Auch dies fand keine Übereinstimmung mit Bedarf und Interesse in der Region, weder bei den Gemeinden, noch bei den Musikern.
 
Es ist unschwer zu erkennen, dass der dramatische Rückgang "geistlichen Lebens" in der Region die Tendenz zur Eigenprofilierung und zur alleinigen Verfolgung eigener Interessen auf allen Ebenen enorm gefördert hat. Als es noch sehr viele Gemeinden, Gemeinschaften, Vereine und Angebote gab, war es die Konkurrenz, die Zusammenarbeit förderte und so Projekte wie die Offenen Abende Siegen entstehen ließ. Heute wurschtelt jeder für sich und es besteht keinerlei Notwendigkeit, sich mit dem Nachbarn auseinanderzusetzen, falls es denn überhaupt noch Nachbarn gibt. Die sogenannten "sozialen" Medien haben diese Tendenz verstärkt. Was auf dem Bildschirm vermeintlich "bedeutsam" ist, findet sich in der Tageszeitung und im Leben der Menschen nicht wieder.
 
Für die Zukunft dürfte nicht weniger wichtig sein, dass die Gemeinden (Kirchen, Vereine, Gruppen etc.) heute noch weniger Geld haben als zum Anfang des Jahrhunderts, als die Christmas Concerts stattfanden. Es sind schon reichlich viele Gemeindehäuser und Kirchen und Vereinshäuser geschlossen worden und der Schrumpfungsprozess in Sachen Menschen und Geld ist noch keineswegs beendet. Aber mit dieser Realität wird man leben müssen und man wird Wege finden müssen, mit den gravierenden Folgen von Corona umzugehen. Von den Gemeinden wird man keinen Beitrag zur Finanzierung des christlichen Musik- und Kulturschaffens erwarten können und die Veranstalter, die alles bezahlen "müssen", weil sie so dumm waren, einem Konzertangebot zuzustimmen, wird es "mangels Masse" (Geld) auch nicht mehr geben. Sponsoren werden deutlich rarer werden bzw. sie werden erkennbarere Gegenleistungen verlangen. Und ob es Sinn macht, dass ein Förderer ein Konzert für eine Gemeinde einkauft (komplett bezahlt!), die das Konzert dann mit "Eintritt frei" durchführt und die Akteure fürstlich entlohnt, das mag dahingestellt sein. Andererseits kann "Hutsammlung" aber auch kein Zukunftskonzept sein, insbesondere wenn man die Zahlung von Steuern, Sozialbeiträgen und GEMA-Gebühren als normal und üblich für öffentliche Veranstaltungen ansieht.
 
Alles tun, aber nichts kosten? Das dürfte sehr schwierig werden in der Nach-Coronazeit. Die Frage wird sein, ob man vorne oder hinten anfängt - beim Tun, oder beim Geld. Und kein Ansatz wird Erfolg "garantieren" können, weder das Machen, noch das Bezahlen. Also wird die Frage sein, was man überhaupt in der Hand hätte, mit dem man umgehen könnte. Wer wird Ideen und Visionen liefern und wer wird Initiative ergreifen (können)?
 
Hans-Martin Wahler



Zurück zur Startseite Startseite



Zum Seitenanfang
Impressum/Datenschutz : Kontakt | © WahlerGraphics